Ernährungsarmut unter Pandemiebedingungen

Autor/innen

  • Prof. Dr. Regina Birner Universität Hohenheim, Institut für Tropische Agrarwissenschaften (Hans-Ruthenberg-Institut), Fachgebiet Sozialer und institutioneller Wandel in der landwirtschaftlichen Entwicklung
  • Prof. Dr. Jakob Linseisen Lehrstuhl für Epidemiologie am Universitätsklinikum Augsburg
  • Prof. Ulrike Arens-Azevêdo (i. R.) Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg - Department Ökotrophologie
  • Prof. Alfons Balmann Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO), Halle (Saale)
  • Prof. Dr. Hans Konrad Biesalski (i. R.) Universität Hohenheim - Fachbereich Ernährungswissenschaften
  • Prof. Dr. Dr. Anja Bosy-Westphal Christian-Albrecht-Universität zu Kiel Institut für Humanernährung und Lebensmittelkunde, Abteilung Humanernährung
  • Prof. Dr. Anette Buyken Universität Paderborn, Institut für Ernährung, Konsum und Gesundheit, AG Public Health Nutrition
  • Prof. Dr. Thomas Döring Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Nutzpflanzenwissenschaften und Ressourcenschutz, Fachgebiet Agrarökologie und Organischer Landbau
  • Prof. Dr. Peter Feindt Humboldt-Universität zu Berlin, Thaer-Institut für Agrar- und Gartenbauwissenschaften, Fachgebiet Agrar- und Ernährungspolitik
  • Prof. Dr. Kay-Uwe Götz Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft Institut für Tierzucht, Poing-Grub
  • Dr. Sarah Iweala Georg-August-Universität Göttingen, Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung
  • Prof. Dr. José Martínez Georg-August-Universität Göttingen, Institut für Landwirtschaftsrecht
  • Dr. Hiltrud Nieberg Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für ländliche Räume, Wald und Fischerei, Institut für Betriebswirtschaft, Braunschweig
  • Prof. Dr. Ute Nöthlings Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften, Professur für Ernährungsepidemiologie
  • Prof. Dr. Monika Pischetsrieder Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Henriette Schmidt-Burkhardt Lehrstuhl für Lebensmittelchemie Department für Chemie und Pharmazie
  • Prof. Dr. Britta Renner Universität Konstanz, Fachbereich Psychologie AG Psychologische Diagnostik und Gesundheitspsychologie
  • Prof. Dr. Achim Spiller Georg-August-Universität Göttingen, Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung, Abteilung Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte
  • Dr. Lieske Voget-Kleschin Christian-Albrecht-Universität zu Kiel, Philosophisches Seminar
  • Prof. Dr. Peter Weingarten Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei Institut für Ländliche Räume, Braunschweig
  • Prof. Dr. Justus Wesseler Wageningen University and Research, Department of Social Sciences, Agricultural Economics and Rural Policy Group
  • Prof. Dr. Christine Wieck Universität Hohenheim, Institut für Agrarpolitik und Landwirtschaftliche Marktlehre, Fachgebiet Agrar- und Ernährungspolitik

DOI:

https://doi.org/10.12767/buel.vi236.468

Abstract

Ernährungsarmut wird als Problem in Deutschland weitgehend vernachlässigt. Von materieller Ernährungsarmut betroffen sind Menschen, denen es aufgrund fehlender finanzieller Mittel nicht möglich ist, sich gesundheitsfördernd zu ernähren. Etwa 3,5 % der Bevölkerung (rund drei Millionen Menschen) sind durch materielle Ernährungsarmut gefährdet. Damit einher geht oft auch soziale Ernährungsarmut, die Menschen von der sozialen Teilhabe ausschließt, die z. B. durch gemeinsames Essen ermöglicht wird. Essen ist nicht nur von Bedeutung für die körperliche Gesundheit, sondern auch zentral für die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden sowie für die soziale Zugehörigkeit, was sich wiederum auf die körperliche Gesundheit auswirkt. Die sozialen Funktionen des Essens werden vielfach übersehen – und bei der Berechnung des Regelbedarfs ausgeblendet. Gerade die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie fehlende soziale Kontakte und sozialer Ausschluss sich auf die physische, psychische und soziale Gesundheit auswirken können. Aus Sicht des WBAE (Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz) ist deshalb der integrative Blick auf die materielle und soziale Ernährungsarmut zentral, da sie sich gegenseitig verstärken können. Diese Stellungnahme befasst sich mit der Frage, wie sich die Corona-Pandemie auf von Ernährungsarmut gefährdete Menschen ausgewirkt hat und was daraus gelernt werden kann. Ein wichtiger Aspekt ist der zeitweilige Wegfall von Essensangeboten in Kitas, Schulen, Tafeln und anderen karitativen Essensangeboten, die ein Sicherheitsnetz für Menschen in Ernährungsarmut darstellen. Die Stellungnahme zieht auf dieser Basis auch Schluss-folgerungen zur Ernährungsarmut außerhalb von Pandemiebedingungen. Im Hinblick auf die Notwendigkeit der Vermeidung von Fehlernährung in Haushalten, die von Ernährungsarmut bedroht sind, kommt der WBAE zu dem Schluss, dass diese Risikogruppe während der Pandemie nicht ausreichend im Fokus der Maßnahmen zur Abmilderung der Pandemiefolgen stand. Dies zeigt sich schon daran, dass kaum Daten erhoben wurden. Deutschland verfügt über kein klares Indikatoren- und Zielsystem und kein Monitoring zur Ernährungsarmut. Die wenigen vorhandenen Daten weisen auf problematische Entwicklungen hin. Insgesamt wurden durch den Bund sehr umfangreiche Mittel zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie und zur Einkommenssicherung während der Pandemie eingesetzt. Dies ist unter dem Blickwinkel „Ernährungsarmut” positiv zu bewerten. Es ist davon auszugehen, dass diese Maßnahmen verhindert haben, dass noch mehr Haushalte von Ernährungsarmut betroffen waren. Insgesamt zeigt die Analyse jedoch, dass es kaum gezielte Maßnahmen gab, um den Ausfall von Kita- und Schulernährung durch alternative Formen der Bereitstellung von Lebensmitteln oder einer warmen Mahlzeit aufzufangen. Maßnahmen auf Bundesebene fehlten, um Länder, Kommunen und nicht-staatliche Organisationen dabei zu unterstützen. Auswertungen der Pandemiemaßnahmen vergleichbarer Länder zeigen, dass dort schnelle und flexible Maßnahmen zur Bereitstellung von Lebensmitteln eine wichtige Rolle gespielt haben, um armutsgefährdete Haushalte zu unterstützen. In Deutschland wurden vorwiegend finanzielle Transfers genutzt, z. T. zeitlich verzögert und wenig zielgruppenspezifisch. Vor diesem Hintergrund hat der WBAE mögliche Maßnahmen gegen Ernährungsarmut – in Krisen, aber auch generell – untersucht: (1) finanzielle Transfers (einmalig oder fortlaufend), (2) Lebensmittelgutscheine („Voucher“), (3) Lebensmittelpakete und (4) warme Mahlzeiten, wobei die letzten beiden Optionen jeweils zur Abholung oder zur Auslieferung angeboten werden können. Die untersuchten internationalen Beispiele zeigen Möglichkeiten, wie z. T. mit schnellen und teilweise innovativen Ansätzen auf Lockdown-Maßnahmen reagiert wurde. Im Grundsatz spricht aus Sicht des WBAE aber vieles für das deutsche System zur Bekämpfung der Ernährungsarmut, das im Kern auf einem Bürgergeld beruht. Ein solches Bürgergeld muss jedoch ausreichend sein, um materielle und soziale Ernährungsarmut zu vermeiden. Die aktuellen, im Bürgergeld für Essen und Getränke zur Verfügung stehenden Beträge entsprechen allerdings nicht diesem Anspruch. Bei der Einführung des Bürgergelds im Jahr 2023 wurde zwar zeitnah auf die hohe Inflation reagiert. Die Berechnungsmethodik für die Bedarfsermittlung wurde aber nicht angepasst, sodass der Regelsatz nach wie vor nicht für eine gesundheitsfördernde Ernährung ausreicht. Die soziale Funktion von Ernährung wird bei der Berechnung des Regelsatzes nicht berücksichtigt. Um bei akutem Handlungsbedarf, wie z. B. auch bei der derzeitigen Inflation, schneller reagieren zu können, sollten außerdem Systeme zur Auszahlung sozial differenzierter „Krisentransfers” an vulnerable Haushalte mit geringem Verwaltungsaufwand ermöglicht werden. Darüber hinaus sollte für den zentralen Bereich der Kinder-ernährung der Schutz einer adäquaten Grundsicherung durch einen Systemwechsel zu einer integrativen, beitragsfreien und somit nicht-diskriminierenden Kita- und Schulverpflegung ergänzt werden, die zudem den DGE-Qualitätsstandards entspricht. Schließlich sollte der Staat privates, ehrenamtliches Engagement ergänzend fördern, z. B. durch Infrastrukturunterstützung bei karitativen Essensangeboten. Eine Herausforderung der Gestaltung von karitativen Lebensmittelangeboten besteht darin, dass sie oft als stigmatisierend und beschämend wahrgenommen werden und der Nachweis eines Anspruches teils schwierig ist. Zudem bestehen oft nur wenige Wahlmöglichkeiten, sodass individuelle Präferenzen oder Unverträglichkeiten nur sehr eingeschränkt berücksichtigt werden können. Im Hinblick auf die soziale Dimension der Ernährung kommt hinzu, dass wichtige soziale Funktionen des Essens, wie das gemeinsame Essen, also Kommensalität, nicht oder nur sehr eingeschränkt ermöglicht wird. Auch bleiben diejenigen, die versorgt werden, dabei meist unter sich. Vor dem Hintergrund dieser Gesamteinschätzung empfiehlt der WBAE die folgenden, in Abbildung Z 1 dargestellten Maßnahmen (siehe Beitrag). Zusammenfassend betont der WBAE die in Deutschland weiterhin unterschätzten Risiken materieller und sozialer Ernährungsarmut. Im Rahmen der geplanten Nationalen Ernährungsstrategie der Bundesregierung sollte dem Thema Ernährungsarmut aus Sicht des WBAE eine herausgehobene Bedeutung zugemessen werden.

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Veröffentlicht

2023-03-21

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